Lebenswelt der Adipösen bedenken
Abweichungen von der Normalität bei einem Individuum adressiert unmittelbar die öffentlich Meinungsbildung, die unaufgefordert eine Beurteilung vornimmt, die nicht selten in einer Verurteilung mitgeteilt wird. Dieses Verhalten entspricht einer Stigmatisierung, die einige Menschen mit bestimmten Erkrankungen erleiden müssen.
Besonders auffällig ist dies bei stark Übergewichtigen oder adipösen Menschen, aber auch Personen mit Schuppenflechte, mit Depression oder sichtbaren Behinderungen werden durch Vorurteilbildung stigmatisiert.
Die negativen Signale sind für die Betroffenen schwer zu ertragen, sie führen zu einer Benachteiligung auf gesellschaftlicher Ebene und werden als Diskriminierung wahrgenommen. Daraus ziehen einige Betroffenen die Konsequenz das negative Fremdbild zu internalisieren, und sich selbst mit der negativen Bewertung zu identifizieren. Das Selbstwertgefühl wird dabei immer geringer, die Diskriminierung verstärkt sich und verbaut die natürliche Chancengleichheit zu einer sozialen und beruflichen Ungleichheit.
Bei Übergewicht und Adipositas kommt erschwerend hinzu, dass die Schuldfrage sehr trivial entschieden wird, weil der Betroffene sein zu hohes Körpergewicht angeblich selbst verursacht hat.
Bei Menschen mit Adipositas ist die Diskrepanz zum Idealbild deutlich ausgeprägt und für jeden ersichtlich. Die Ursachen seien sehr banal und lägen vermeintlich auf der Hand: Extrem hohe Nahrungsaufnahme und deutlich zu wenig körperliche Aktivität werden reflexartig unterstellt. Deswegen liege es alleine an dem Betroffenen, das aus der Balance geratene Körpergewicht wieder zum Normgewicht zu regulieren.
Es wird dabei vergessen, dass die Entwicklung zur Adipositas ein sehr langer Lebensprozess ist, an dem nicht nur die genetische Ausstattung, sondern auch die familiäre Situation, die sozio-ökonomischen Bedingungen, die Berufswahl und das soziale Umfeld beteiligt sind. Nicht zuletzt muss der Lebensmittelindustrie und den Herstellern von gesüßten Getränken eine Teilverantwortung zugeschrieben werden, deren wirtschaftliche Ausrichtung sich nicht auf gesunde Nahrungsmittel konzentriert, sondern auf die Konsummenge, die direkt mit Umsatz und Gewinn korreliert.
Viele Menschen in der Umgebung von Übergewichtigen oder Adipösen vertreten die Meinung, dass es sich um willensschwache, undisziplinierte und bequeme oder faule Personen handelt, die außerstande sind, ihr Körpergewicht zu halten beziehungsweise zu reduzieren. Die Konsequenz ist eine Negativbeurteilung, die von der Familie, den Arbeitskollegen, dem Freundeskreis und nicht zuletzt auch vom behandelnden Arzt signalisiert wird. Das bedeutet eine Stigmatisierung, die durchgehend mit negativen Eigenschaften und Attributen verknüpft ist.
Daraus resultiert eine systematische Benachteiligung wegen des hohen Körpergewichts. Es kommt zu diskriminierenden Äußerungen im zwischenmenschlichen Kontakt, bei der Arbeitssuche bestimmt weniger die Qualifikation als das Körpergewicht den Erfolg einer Bewerbung, und die betroffenen Menschen entwickeln aufgrund der ausgeprägten Stigmatisierung eine soziale Distanz und isolieren sich zunehmend.
Dies alles sind ideale Voraussetzungen den adipösen Menschen in eine negative Stimmung bis zur Depression zu treiben, die als zusätzliche Erkrankung auftritt. Der damit verbundene Stress fördert die Kortisolausschüttung, und führt zur weiteren Gewichtszunahme. Schlafstörungen treten dann häufig auf, Schlafapnoe mit nächtlichen Atempausen führen in eine Sauerstoffnot. Dass mit solchen Bedingungen und Voraussetzungen auf physischem und psychischem Stress mehr Herz-Kreislauferkrankungen und metabolische Störungen auftreten, ist leicht nachvollziehbar.
Die Politik, das Gesundheitswesen und die Gesellschaft sind gefragt, sich um für eine wirksame Prävention und effektiven Therapie der Adipositas stark zu machen. Die Stigmatisierung sollte durch intensive Aufklärung und soziale Maßnahmen beseitigt werden, ebenso wie die konsistente Diskriminierung der Betroffenen.